Unzeitgemäße Beweglichkeit

 

Wandergesellen sind der Prototyp modernen Freelancer

 

Eichendorff war ein „Kuhkopp". Einer, der nie auf Wanderschaft war. Und wie heutige Kuhköppe blickte er den Wandergesellen, diesen Gestalten in Kord-Kluft und Schlapphut, mit großen Augen staunend nach. Projizierte seine Sehnsüchte auf sie, die Lust, Haus, Arbeit und Familie hinter sich zu lassen und in die weite Welt zu gehen. Frei zu sein. 
Esther* (30) war eine Wandergesellin. Zwei Jahre und zehn Monate war die Steinmetzin unterwegs, quer durch Deutschland. In einem Jahr ist sie 2 000 Kilometer „getippelt", zusätzlich ist sie „gejettet", also per Anhalter gefahren. Im Herbst 1993 ging sie los, im Regen, zwölf Gesellen mit Hund haben sie abgeholt: „Ich habe mein ganzes Leben verlassen, meine Freunde, meine schwangere Schwester", erinnert sie sich heute. „Ich war gerade frisch verliebt. Aber das passiert den meisten Reisenden, das ist der letzte Test." 
Esther war frei. Frei zu gehen, wohin sie wollte. Ihr „Charly", der Beutel, war schnell gepackt: Wanderbuch, Arbeitskluft, Wäsche und ein paar Kleinigkeiten wie Zahnbürste und Seife waren alles, was sie dabei hatte. „Jederzeit wegzukönnen ist die einzige Gewißheit, die du hast", sagt sie. „Aber auch das Schlimmste: abfahren zu müssen und nicht zu wissen, wohin. Du hast tausend Möglichkeiten und mußt dich entscheiden. Diese Freiheit ist die Qual." 
Bei Joseph von Eichendorffs Geburt, 1788, war die „Walz" für Handwerksgesellen noch Pflicht. Um zur Meisterprüfung zugelassen zu werden, mußten sie nach der Lehre, die oft sieben Jahre dauerte, drei Jahre und einen Tag wandern. Die ersten Reisenden gab es bereits im 14. Jahrhundert, ihre Regeln gelten zum großen Teil heute noch: Sie dürfen für Unterkunft und Reise nichts ausgeben, ihrem Heimatort nicht näher als 50 Kilometer kommen und an jedem Ort nur wenige Monate bleiben. 
Um sich gegenseitig vor den Gefahren des Lebens auf der Landstraße zu schützen, haben die Wandergesellen gegen Ende des Mittelalters „Bruderschaften" gegründet – und um gegen die Benachteiligung durch die Meister zu kämpfen: Deren Söhne hatten es leichter, Meister zu werden und mußten die hohe Aufnahmegebühr in die Zünfte nicht zahlen. Stadtfremde Gesellen hatten es dadurch schwerer. 
Als am Anfang des 19. Jahrhunderts die Gewerbefreiheit eingeführt wurde, fiel das Zunftrecht weg; Wanderschaft ist seitdem keine Pflicht mehr. Die meisten Gesellen-Verbände lösten sich damals auf, bildeten sich allerdings neu, nachdem 1897 die heutigen Handwerkskammern eingerichtet wurden. 
Wie Esther wandern heute zwischen 250 und 300 Maurer, Schreiner, Tischler, Steinmetze, Köche und Bäcker auf deutschen Straßen. Um Erfahrungen zu sammeln, menschlich und beruflich. Entweder ohne sich einer „Gesellschaft" anzuschließen, also „freireisend", oder in einem der sechs „Schächte": Traditionell, bei den Rechtschaffenden Fremden Gesellen, dem Rolandsschacht, dem Fremden Freiheitsschacht oder den Freien Voigtländern. Oder bei den „alternativen": Axt & Kelle und dem Freien Begegnungsschacht, bei denen auch Frauen reisen dürfen. 
„Es gibt Momente, in denen du auf dem Grund bist", erzählt Esther. „Normalerweise schützen dich deine Gewohnheiten, unterwegs ist alles neu. Es gibt kein einprogrammiertes Verhalten mehr, du mußt ständig wach sein. Andererseits hast du eine Riesenpower." 
Die einzige Konstante in ihrem unsteten Leben war die „Gesellschaft". „Die Reisenden sind mein Zuhause", sagt Esther. Auf den Schacht kann sie sich verlassen. Die Gesellen bilden eine verschworene Gemeinschaft, nicht nur durch ihre Kluft, die sie von den Kuhköppen abhebt, sondern auch durch ihre Rituale und den „Schnack". Auf der Landstraße wird seit dem 13. Jahrhundert Rotwelsch gesprochen, ein Mischmasch aus Jiddisch, Deutsch und der Sprache der Roma. Auch heute noch bringen sich die Wandergesellen Sprache und Rituale gegenseitig bei: Jeder Neuling hat einen „Exportgesellen", der ihn „losbringt". Mit Kuhköppen sprechen sie darüber allerdings nicht so gerne. „Das soll geheim bleiben, weil wir daran erkennen können, ob jemand wirklich losgebracht wurde", erklärt Esther. 
Die Kluft unterscheidet sie auch von Landstreichern, wichtig für die Gesellen, die oft auf andere angewiesen sind – beim Trampen, Übernachten und der Jobsuche. „Die Meister wissen, daß wir Verantwortung übernehmen können und Erfahrung haben", so Esther. Jörg Pergande, der eine Firma für Holztreppen und Geländerbau in Berlin führt, kann das bestätigen: „Wer die Jahre durchgehalten hat, der ist gereift, den kann man empfehlen", sagt er. Und die so altertümlich wirkenden Arbeitskräfte haben modernen Freelancern eines voraus: Sie sind keine Einzelkämpfer, sondern haben eine „Gesellschaft", die ihnen Halt gibt. 
Esther hat sich vor einem Jahr wieder „einheimisch" gemeldet. Seitdem versucht sie, seßhaft zu werden. „Es fällt mir immer noch schwer, mich zu binden, den Job nicht zu schmeißen, sobald Probleme auftauchen. Früher wäre ich einfach gegangen", sagt sie. Aber sie genießt es auch, sich „schwer" zu machen, ihr Klavier in ihre Wohnung zu stellen, ein Auto zu kaufen. „Das ist eine andere Sorte Freiheit".   aus" Die Depesche"09/1997